Wenige sprechen aber darüber

Hommage an unsere tapferen Zeitgenossen, die ohne intaktes Elternhaus aufzuwachsen sind und nun den Blick zurück wagen, um uns einen etwaigen Schimmer aus  ihrer drückenden Kindheit wieder zu geben. Die folgende Geschichte ist das Schicksal vieler Neu-Arader Familien.

In einer Großfamilie mit mehreren Generationen aufzuwachsen war vor und nach dem Kriege durchaus normal, als Kind genoss man so die Liebe und Zuneigung der Eltern wie auch die der Großeltern oder anderer Verwandten. Manch Urgroßelternteil war auch noch da, vielleicht hilfebedürftig, auch ihm wurde Respekt und Ehre zuteil.

Es heißt, zu einer Familie gehören alle Mitglieder, die zusammen das Gleiche erleben, egal ob Eltern, Großeltern oder Verwandte. Das ist die Erklärung, weshalb wir S.O.S. Kinder, unsere eigenen Müttern nach Jahren der Deportation, und unseren Vätern nach längerer Gefangenschaft fremd geworden sind. Viele Väter waren noch nicht da oder kamen nie wieder, Großeltern oder Verwandte wurden so zu unseren Erziehern. Diese S.O.S Floskel erfand wahrscheinlich unser ehemaliger Gemeindepfarrer, als er am 4. Mai 1943 bei der Florianiprozession vom Predigtstuhl verkündete: „wenn ein Schiff in Not gerät, sendet es seine S.O.S Signale über die Meere. Auch wir hören die Hilferufe unseres Mutterlandes und haben die Pflicht zu helfen!“ Alle 18 bis 35 Jährige streng katholisch Erzogene wussten somit, es ist kein Muss aber Pflicht den Koffer zu packen und als „Freiwillige“ an die Front zu ziehen. Etwa 1500 Neuarader wurden mit Blasmusik zum Arader Bahnhof begleitet, darunter auch unsere Väter, die schon längst beim rumänischen Militär ihren Dienst absolviert hatten.

Allerdings, vielen von uns fehlten auch die Mütter. Die hat man Januar 1945 einfach zusammengetrieben, in der alten Kaserne ohne Verpflegung festgehalten. Mein Bruder reichte unserer Mutter von Omas Gekochtem über den Zaun. Die Väter, die sich erfolgreich vor dem deutschen freiwilligen Einrücken gedrückt hatten, „durften“ nun auch mit! Die rumänischen Gendarmen arbeiteten noch gründlicher als die deutschen Karrieristen aus dem Jahre1945, die mittlerweile verschwundenen waren. Man war nicht zimperlich, hier hatte bloß die Anzahl der Abtransportierten zu stimmen, Jugendliche ab 16 waren auch dabei. Sie wurden in Wagons verladen. Niemand wusste wo sie in Russland landen werden.

Gerade in der Zeit als sie am meisten mit ihrer Liebe und ihrem Verständnis gebraucht hätte, war Mutter nicht da! Oma war da, jedoch überfordert von Arbeit und Verantwortung, kaum Zeit und Geduld für mich, ihren kleineren Enkel. Abends, einnickend beim schwachen Schein der Petroleumlampe hieß es barsch: „Heb deine Fragerei auf bis deine Mutter wiederkommt und bete dass man sie bald nach Hause entlässt!“ Und wieder ging ich alleine zu Bett und weinte mich in den Schlaf.

Nächsten Morgen weckte mich Oma um fünf Uhr. Noch im Halbschlaf und ohne Frühstück musste ich ihr in die Nacht hinaus folgen, dabei hielt ich  mich an ihrem Rock fest, um mit ihr Schritt halten zu können. Schon vor der Marosch-Holzbrücke – die richtige war gesprengt – gab mein Schnürsenkel nach. Doch weil Oma den schweren Marktkorb nicht vom Kopf absetzen konnte um mir die Schuhe zu schnüren, latschte ich weinend hinterher, bis zum Gemüsemarkt. Falls ich über meine Senkel stolpern  und hinfallen sollte, rief Oma streng: „Komm her, ich heb’ dich auf!“ Und wenn ich  mich dann vor Omas Füßen fallen ließ, kam die Ernüchterung:  „Na siehst du, es geht doch! Also nix wie weiter!“  Oft dachte ich an das Heiligenbild daheim über meinen Bettchen, das Jesuskind im Schosse seiner Mutter. „Ja du hast es gut, du hast eine schöne Mutter, du kannst ruhen wann und wie lange du willst, Maria wacht für dich!  Warum willst du mir nicht helfen, du brauchst doch nur deine Mutter um die Heimkehr meiner Mutter zu bitten!“ Mit kindlicher Naivität glaubte ich meine traurige Lage ändern zu können, wenn ich das Jesuskind unentwegt anbettele, wie Oma mir vorgab. Vergebens, es war zum Verzweifeln, ich wusste nicht mehr wem und was ich noch glauben sollte. Mein Herzenswunsch, einmal morgens von meiner Mutter liebevoll geweckt zu werden, sollte sich erst nach fünf Jahren erfüllen.

„Zieh an was du hast und lass mich in Ruh“ bekam ich zu hören wenn ich den alten Sachen entwachsen war oder gar besondere Wünsche äußerte, wie schneeweiße Kniesocken die einige Jungs im Kindergarten immer trugen. Das waren natürlich Notausreden, gerne hätte Oma uns verwöhnt wenn es ihr irgendwie möglich gewesen wäre. Also meine Mutter hätte mir bestimmt lieber eine neue Hose gekauft, bevor ich die alte, zerschlissene von meinen Bruder anziehen sollte. Aber sie war nicht da!

Wenn eigenes, frisches Brot auf den Tisch kam, wurde es erst mit dem Messer nach dreimaligen Bekreuzen angeschnitten. Brot war heilig, das Grundnahrungsmittel, Verschwendung oder gar Brotfrevel wurde als Sünde betrachtet. Diese Sünde hätte ich kaum begehen können, denn frisches Brot kam bei uns nur selten auf den Tisch. Oma buk Maismehl zu einem goldgelben Blechkuchen, der hinten am Herd seinen Platz hatte. Wenn uns der „kleine Hunger“ packte, schnitt  Großmutter davon eine Ecke ab, bestreute ihn  mit Zucker. Weil Puderzucker Mangelware war, ließ Oma mit einem Löffel so klebrigen, braunen Zuckerrübensirup langsam auf die Kruste rinnen, das dauerte ewig lange bis das Gerinnsel endlich stockte und ich den Löffel abschlecken durfte.

Irgendwann kam Oma sonntags von der Kirche heim und während des Kartoffelschälens grummelte sie zu mir und meinem größeren Bruder: „morgen gehen wir zum Bahnhof, vielleicht kommt eure Mutter“. Na das war eine Überraschung, schau her, Mutter will endlich nach Hause kommen! Der Sonntag währte ewig lange, ich wollte früh zu Bett damit ich nächsten Morgen recht  ausgeschlafen habe, denn Mutter will bestimmt mich zu erst sehen. „Sie wird staunen wie groß und stark ich inzwischen geworden bin, gerade mal kaum Zwei hatte sie mich verlassen und im Herbst werde ich schon eingeschult“.

Am Bahnhof sollte ich mit meinen Bruder drinnen warten bis die Oma mit unserer Mutter auftaucht. Und das dauerte, da waren noch mehrere Leute und auch Kinder die mit uns stundenlang warteten. Mutter kam nicht.

Groß war die Enttäuschung als dann beim nächsten Mal Mutter im Bahnhof ankam! Ich verbarg mich halb hinter Omas Rock vor dieser fremden Frau. Alle unsere Träume und Vorstellungskraft  von einer glücklichen Familie waren in diesem Moment zu Nichte gemacht. „Ja kennt ihr mich nicht mehr, wollt ihr mich nicht begrüßen?“, verzweifelt versuchte sie die Situation zu retten.  Diese Frau soll unsere Mutter sein, die sieht ja älter aus als Oma! Mein Bruder erkannte ihre Stimme wieder, langsam bewegte er sich auf sie zu, ich machte es meinem Bruder nach. Mit meinen Überlegungen brauchte ich viel länger, ich konnte mich beim besten Willen nicht zurückerinnern, wusste nicht mehr wie sie sich anfühlt, wie sie riecht, wie sie zu mir war! Wo war den ihr Gepäck mit den Geschenken? Wo war denn ihr liebevolles Lächeln für uns, ihren Kindern, wie das Lächeln der Mutter Maria? Daheim  angekommen sollten wir Jungs unsere Mutter erst mal in Ruhe essen und ruhen lassen, denn sie wäre von der langen Reise sehr erschöpft.  Ungeduldig zog es mich immer in ihre Nähe, vielleicht hat sie mir was Schönes zu erzählen oder doch noch was mitgebracht? Ja, wir beide bekamen je eine bunt bemalte runde Blechbüchse  gefüllt mit Bonbons, das war’s.

Nachbarsleute wollten unsere Mutter begrüßen, einige fragten nach ihren eigenen Verwandten, dann, nach ein paar Tagen hatte sich alles beruhigt. Endlich hatten wir Mutter nur für uns.

Doch das vertrauensvolle Miteinander fehlte uns allen. Dass auch unsere Mutter Probleme hatte, erfuhren wir erst nach Jahren. Sie erkannte die alte Heimat nicht wieder, die Uhren hatten sich weitergedreht, während für sie bei der harten  Arbeit in der Kohlengrube die Zeit stille stand. Wir Kinder erwarteten eine liebevolle Mutter zurück, jedoch ihre Zuwendung uns gegenüber musste erst langsam reifen. Sie war noch traumatisiert, zu schrecklich waren ihre Erlebnisse, als dass sie darüber hätte sprechen können. Außerdem holte die Realität sie gnadenlos ein, weil Vater fehlte, musste sie sofort Geld ins Haus schaffen, damit sich die prekäre Haushaltslage etwas entspannte. Aber wie bei den neuen Machthabern einen Arbeitsplatz finden? Alle waren damals auf Arbeitssuche, nur um einfach zu überleben.

Die Ersparnisse vor ihrer Verschleppung waren längst aufgebraucht, die erste Geldumwechslung erledigte was noch davon übrig war. So blieb allein der Garten um uns zu ernähren und mit dem Überschuss, das allernötigste einzukaufen. Kolonisten waren in unsere Häuser eingeschleust, darauf hin wurde gestohlen was nicht niet- und nagelfest war. Abends hüteten wir „Männer“  Mutters erste reife Tomaten.

Auch Oma sollte mit ihren Kräften besser haushalten, mit ihren 60 Jahren hatte sie für uns fünf Jahre lang heldenhaft beide Eltern ersetzt!

Allerdings die großen Verlierer waren wir, die S. O. S. Kinder. Unserer Kindheit beraubt hatten wir nur ein Ziel: schnell erwachsen zu werden. Natürlich buhlte man noch um etwas Mutterliebe, doch weil Mutter meinte, wir wären die Männer im Hause, versuchten wir nun auch schwerere Arbeiten so gut es ging zu erledigen. Wenn auch die Kräfte bald nachließen, der Wille zählte und der war ungebrochen.  Unsere Familie – Vater kam nicht wieder, er fiel bei Budapest – war dauernd auf der Suche nach irgendeiner Arbeit, um etwas Essbares danach in den Händen zu haben. Einige Nachbarinnen – auch deren Männer waren vermisst oder noch nicht zurückgekehrt – die mitleidig uns beobachteten, schenkten uns mal ein belegtes Weißbrot, Obst oder sogar etwas von ihrem geschlachteten Schwein. Im Gegenzug stellten wir uns für sie in die Schlange um auf Lebensmittelkarten Öl, Mehl oder Zucker abzuholen. Das wurde immer mit etwas Essbarem honoriert und war somit völlig in Ordnung. Ein kaputtes Kinderfahrrad vom Speicher unserer Patin sollte für uns zu einer Herausforderung werden, doch mein Bruder brachte das Ding wieder zum Fahren.

Der Winter nahte und zugleich unser erstes, gemeinsames Weihnachtsfest. Unsere beiden Mütter wollten unbedingt ihre Helden reichlich beschenken, jedoch auch Oma sollte wieder ordentliches Schuhwerk erhalten. An Heiligabend erstrahlte die warme Stube vom kleinen geschmückten Christbaum, mit weit geöffneten Kinderherzen empfingen wir das Christkind, das wir jahrelang vermisst hatten.   Nach dem Abendessen wurden alle beschenkt, doch richtige Freude kam trotzdem nicht auf, zum ersten Mal fehlte uns allen ganz bewusst unser Vater! Mein Bruder bekam Vaters Lederhandschuhe und seinen Ledergürtel, Mutter nahm sich seine Armbanduhr, die eigene hatte sie irgendwann für Essen eintauschen müssen.  Für mich lag Vaters Brieftasche bereit, quasi als Andenken. Gestrickte Fäustlinge und Wintersocken waren uns Jungs sehr willkommen. Und fast hätte ich es vergessen, je eine kleine Taschenlampe war unser erstes und schönstes Weihnachtsgeschenk!

Mutter versprach uns dass auch wir im nächsten Jahr wieder ein Schwein schlachten und nach der Christmette eine Bratwurst essen werden. Doch meine Erstkommunion stand schon im nächsten Mai an, dazu brauchte ich einen Anzug und ein paar schwarze Schuhe, mein erstes, richtiges Paar Schuhe.

Nun, als Erwachsene müssen wir dankbar anerkennen, dass unsere Großmütter oder Großväter oder Anverwandte uns trotz allem, ein  geborgenes Heranwachsen ermöglichten, in einer Familie, wo noch zusammen gefrühstückt, zu Mittag gegessen und abends noch zusammen geplaudert wurde, was für uns S.O.S. Kinder die Basis eines  guten Starts ins Leben bedeutete.

Schon vor geraumer Zeit sind unsere damaligen Kämpferinnen und Kämpfer von uns gegangen. Doch während ich hier zu Ende schreibe und dabei kurz meine Augen schließe, erscheint meine in weiß gekleidete Großmutter, sie wird auf mich warten, wenn  ich ihr folgen werde.

Franz Weininger, Sindelfingen

7 Gedanken zu „Wenige sprechen aber darüber“

  1. Danke Erna, Gott behüte dass unseren lieben Enkeln und Urenkeln solch eine traurige Kindheit jemals widerfährt.

  2. Danke Josef,Schuld an dieser Misere hatten wir keinesfalls, warum sollten wir demnach nicht darüber sprechen? Nach über fünfzig Jahren ist Aufarbeiten mehr als berechtigt!

  3. Danke. Wenn einige den Mut fassen, um mit ihren Kinder und Enkel darüber zu sprechen, hat es sich gelohnt zu berichten. Das wäre mein größter Wunsch.

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